Angesicht zahlreicher europäischer Einflüsse auf das deutsche Urlaubsrecht, ist das „Dickicht“ der rechtlichen Lage für Arbeitnehmer*innen[1] kaum zu durchblicken. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten Grundsätze und Regelungen und beantworten die häufigsten Fragen.
Unterscheidung zwischen gesetzlichem Urlaub und vertraglichem bzw. tariflichem Mehrurlaub
Zunächst ist wichtig, dass der Urlaubsanspruch sich regelmäßig aus zwei Teilen zusammensetzt. Dabei hat jeder Arbeitnehmer einen gesetzlich garantierten Mindesturlaubsanspruch. Dieser beträgt bei einer sechs-Tage-Woche 24 Urlaubstage, entsprechend bei einer fünf-Tage-Woche 20 Urlaubstage. Für diesen Urlaubsanspruch gelten uneingeschränkt die rechtlichen Vorgaben des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG), das auf der europäischen Richtlinie RL 2003/88/EG beruht und daher wesentlich durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geprägt ist.
Darüber hinaus wird im Arbeitsvertrag oder in Tarifverträgen häufig ein höherer Urlaubsanspruch gewährt. Die Tage, die über den gesetzlichen Urlaub hinausgehen, sind sog. Mehrurlaub. Bei der Ausgestaltung der Regelungen dieses Urlaubs sind die Vertrags- bzw. Tarifparteien frei. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf den gesetzlichen Urlaubsanspruch. Fragen zum vertraglichen oder tariflichen Mehrurlaub können nur individuell auf Grundlage des Arbeits- oder Tarifvertrags beantwortet werden – EMPLIFY LAW hilft hier gerne jederzeit weiter.
Teilurlaub oder voller Urlaubsanspruch?
- Besteht das Arbeitsverhältnis in einem Kalenderjahr nicht mehr als sechs Monate, entweder weil es vorher beendet wird oder weil es in der zweiten Jahreshälfte beginnt, steht dem Arbeitnehmer nur anteilig gesetzlicher Urlaub zu.
- Ebenso steht nur ein anteiliger gesetzlicher Urlaub zu, wenn der Arbeitnehmer nach längerer Beschäftigung (über sechs Monate) in der ersten Jahreshälfte aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet.
Beispiel 1: Der Arbeitnehmer hat am 1. April 2022 beim Arbeitgeber begonnen. Dem Arbeitnehmer steht dennoch – nach sechsmonatiger Beschäftigung – der volle gesetzliche Jahresurlaub für das Jahr 2022 zu.
Beispiel 2: Der Arbeitnehmer hat am 1. April 2021 beim Arbeitgeber begonnen und sein Arbeitsverhältnis endet mit Ablauf des 31. August 2023. Dem Arbeitnehmer steht der volle Jahresurlaub für 2023 zu, weil das Arbeitsverhältnis über sechs Monate bestanden hat und in der zweiten Jahreshälfte sein Ende findet.
Verfall oder Abgeltung?
Häufig können nicht alle Urlaubstage im laufenden Kalenderjahr oder vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses genommen werden. Dann kommen die Begriffe Verfall und Abgeltung ins Spiel. Der Anspruch auf Urlaub in Form von Freizeit kann verfallen. Besteht am Ende des Arbeitsverhältnisses noch ein Urlaubsanspruch, der nicht verfallen ist, wandelt sich der Freizeitanspruch in einen Geldanspruch (Abgeltungsanspruch).
Verfall: Grundsätzlich ist der Jahresurlaub auch im entsprechenden Kalenderjahr zu nehmen. Wird der Urlaub nicht genommen, verfällt er im Grundsatz. Dies gilt allerdings nur, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Kann der Urlaubsanspruch aus dringenden betrieblichen Gründen oder aus Gründen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, nicht im laufenden Kalenderjahr genommen werden, wird der Anspruch auf das folgende Jahr übertragen und muss dann bis zum Ablauf des dritten Monats genommen werden. Danach verfällt der Urlaub. Auch dies ist aber nur der Fall, wenn der Arbeitnehmer in der Lage war, den Urlaub tatsächlich zu nehmen und sich aus freien Stücken dagegen entschieden hat. Auf die Rechtsfolge des Verfalls muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer explizit hinweisen. Die Anforderungen an den Verfall von Urlaubsansprüchen sind daher sehr hoch. In vielen Fällen werden nicht genommene Urlaubstage in die Folgejahre „mitgeschleppt“. Hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht aufgefordert, seinen Urlaub zu nehmen, und hat ihn nicht auf den Verfall hingewiesen, unterliegt dieser Anspruch nicht einmal der üblichen Verjährung von drei Jahren. So können sich erhebliche Urlaubsansprüche kumulieren.
Beispiel: Der Arbeitnehmer ist mit einer fünf-Tage-Woche beschäftigt, sodass ihm jährlich ein gesetzlicher Urlaub von 20 Tagen zusteht. Im Jahr 2020 nimmt er lediglich 10 Tage. Im Jahr 2021 nimmt er den vollen Jahresurlaub. Im Jahr 2022 nimmt er nur 14 Tage Urlaub. Im Jahr 2023 hat er seinen gesamten Jahresurlaub aufgebraucht. Der Arbeitgeber hatte den Arbeitnehmer nie aufgefordert, seinen Urlaub vollständig zu nehmen. Aus dem Jahr 2020 stehen dem Arbeitnehmer noch 10 Urlaubstage zu. Aus dem Jahr 2022 stehen dem Arbeitnehmer noch 6 Urlaubstage zu.
Abgeltung: Besteht am Ende eines Arbeitsverhältnisses noch Urlaubsansprüche, die nicht mehr erfüllt werden können, so sind diese nach § 7 Abs. 4 BUrlG in Geld abzugelten. Dieser Anspruch unterliegt wiederum – anders als der Urlaubsanspruch im laufenden Arbeitsverhältnis – der Verjährung und im Einzelfall sogar arbeitsvertraglichen oder tariflichen Verfallsfristen. Am Ende eines Arbeitsverhältnisses sollte daher schnellstmöglich ein bestehender Abgeltungsanspruch geprüft und geltend gemacht werden.
Beispiel: Im vorangegangenen Beispiel endet das Arbeitsverhältnis zum 30. September 2023. Die offenen 16 Urlaubstage aus den Jahren 2020 und 2022 sind dem Arbeitnehmer in Geld auszubezahlen.
Wichtig für Arbeitnehmer (und Arbeitgeber) zu wissen ist, dass Urlaubsansprüche im laufenden Arbeitsverhältnis nicht in Geld abgegolten werden dürfen.
Was passiert bei langfristiger Krankheit?
Besonderheiten sind im Zusammenspiel von Krankheit und Urlaub zu beachten. Der Urlaub dient der Erholung und kann daher nicht genommen werden, wenn der Arbeitnehmer krank ist. Das gilt unabhängig von der Dauer der Krankheit. Wird ein Arbeitnehmer also während seines Urlaubs (nachweislich) arbeitsunfähig, ist der Urlaub für die Dauer der Krankheit gutzuschreiben.
Erkrankt ein Arbeitnehmer langfristig und kann daher ein Urlaubsanspruch überhaupt nicht erfüllt werden, verfällt der Urlaubsanspruch nicht einmal dann im Folgejahr, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf den Verfall hinweist und dazu auffordert, den Urlaub zu nehmen, weil der Arbeitnehmer praktisch nicht in der Lage ist Urlaub zu nehmen. In diesem Fall verfällt der Urlaubsanspruch frühstens fünfzehn Monate nach Ende des entsprechenden Kalenderjahres.
Beispiel: Der Arbeitnehmer ist vom 15. April 2020 an bis einschließlich 31. Juli 2023 arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2020 hatte er noch keinen Urlaub genommen. Der Jahresurlaub aus dem Jahr 2020 verfällt 15 Monate nach dem Ende des Jahres, somit mit Ablauf des 31. März 2022. Der Jahresurlaub aus dem Jahr 2021 verfällt ebenfalls 15 Monate nach dem Ende des Jahres, somit mit Ablauf des 31. März 2023. Der Jahresurlaub aus dem Jahr 2022 würde ebenfalls frühstens fünfzehn Monate nach Ende des Jahres verfallen. Das wäre der 31. März 2024. Im Zeitpunkt der Genesung (1. August 2023) steht dem Arbeitnehmer daher der volle Jahresurlaub des Jahres 2022 und des Jahres 2023 zu.
Haben Sie Fragen rund um Ihren Urlaubsanspruch? Unsere Experten von EMPLIFY LAW beraten Sie gerne jederzeit – buchen Sie sich gerne einen Termin.
[1] Im Folgenden wird der einfacheren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum verwendet. Es sind stets alle Geschlechter gemeint.